Unterwegs im Wikingerbeton des Hohen Nordens – Lofoten und Stetind (August 2012)

 

Klettern nördlich des Polarkreises? Dazu fallen einem vielleicht ja erst einmal notorisches Scheisswetter, selbst im Hochsommer Temperaturen deutlich unter 20 Grad, moosig-flechtige Felsen und horrende Lebens-haltungskosten ein. Das mag ja durchaus seine Richtigkeit haben, aber im norwegischen Norden befindet sich ein riesiges Paradies für die Freunde langer Trad-Routen und stolzer Gipfel in bombastischen Granitfluchten, die sich dort aus dem Meer erheben. Viele der teils schwer zugänglichen Gipfel wurden schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts bestiegen, die Geburtsstunde des norwegischen Kletterns war allerdings im Jahre 1910, als sich die drei Osloer Bryn, Rubenson und Schjeldrup bei einem Bootstrip die Erstbesteigungen der äußerst begehrten und derzeit als „unmöglich“ geltenden Gipfel Stetind, Svlovaergeita und Trakta holten. Die damals eröffneten Anstiege auf den Stentind und die Svolvaergeita sind heutzutage immer noch beeindruckend, tüten bei 4+ ein und für die einheimischen Bergsteiger zählen diese beide quasi als Pflichtgipfel. Durch die Mitternachtssonne, die dort von 29.05 bis 15.07 dauert, hat man auch die einzigartige Möglichkeit, zu Unzeiten zu klettern, bzw. sehr lange Touren ohne Zeitdruck anzugehen. Auch den Monat davor und danach ist es nach Sonnenuntergang immer noch hell genug, um draußen ohne Stirnlampe etwas zu unternehmen. Die bizarre und überwältigende Schönheit der Landschaft im hohen Norden durch das Zusammenspiel des Meeres, der Fjorde, der gigantischen Granitwände und des arktisch vergletscherten Hinterlandes verleiht der Kletterei etwas Magisches. Zumindest bei Sonnenschein und blauem Himmel… Hier muss allerdings ehrlicherweise erwähnt werden, dass ein Aufenthalt in dem Gebiet durchaus auf Wetterlotto hinausläuft. Schlechtes Wetter ist im Allgemeinen richtig schlechtes Wetter. Wenn man Pech hat, regnet es zwei Wochen durch und die tiefhängenden Wolken hüllen alles ein. Dann ist es sehr herb und man sollte ein gutes Alternativprogramm auf Lager haben. Die Glücklichen haben 12 Tage Sonne am Stück, wie es bei Hendrik im Juni der Fall war, und dann heißt es Klettern! Die Temperaturen dümpeln selbst im Hochsommer bei zum Klettern idealen 10-18°C, wobei sich das herrlich klare grün-blaue Meer mit seinen teils karibisch wirkenden Sandstränden allerdings nicht über 11°C erwärmt. Da kann man schon mal rein springen, es verführt aber leider nicht zu längeren Badeaufenthalten. Naja, da merkt man dann, dass man in der Arktis und nicht auf Malle verweilt.

 

Zur Kletterei:

Sich die Sicherungskette selbst durch die Route legen ist hier oberstes Gebot und der Bohrhaken ist bei den Nordmännern verpönt. Reine Click-und-Climb Sportkletterer können sich die weite Anreise eigentlich sparen, obwohl es mittlerweile an ein paar Cliffs fern der klassischen Wandfluchten durchaus voll eingebohrte Sportkletterrouten gibt, aber das ist eigentlich nur das Übungsgelände der lokalen Hardmover. Geklettert wird in fantastisch rauem, uraltem und in den gängigen Klettergebieten bombenfestem Granit, welcher nach dem allfälligen Regen zum Glück sehr schnell abtrocknet.

Natürlich hat es auch etliche grün dreckige Schotterrouten (wie z.B. die ersten paar teils schaurig brüchigen Längen des durchaus beliebten Vagakallen-Nordryggens), aber bei der unglaublich großzügigen Auswahl an Felsflächen besteht eigentlich nicht die Notwendigkeit, diese zu beklettern. Die Wände sind meist liegend bis senkrecht. Die Kletterei ist sehr stark von Rissen aller Breiten, Rissverschneidungen und Platten geprägt. Mit der Beherrschung diverser Klemmtechniken macht man sich das Leben dort deutlich leichter. Da Bohrhaken nicht gerne gesehen sind, erfordern einige Plattenlängen allerdings durchaus souverän-mutiges Vorsteigen. Henkeldachklettereien finden sich eigentlich keine, dafür aber ein paar Rissdachbretter. Wenn man den V-VI Norwegergrad beherrscht (V-VII nach UIAA), steht einem ein sehr großes Angebot an Dreisterne-Tradrouten zur Auswahl. Die Bewertung ist generell eher hart wenn man die Granitkletterei nicht so gewohnt ist, und besonders in den klassischen Routen der Kletterpioniere kann die angegebene Schwierigkeit durchaus etwas von der Norm abweichen (kennt man ja auch von daheim).

 

Ausrüstung:

Da cleane Routen hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind, ist ein umfangreiches Set an mobilem Sicherungsmaterial notwendig, da man sich eigentlich fast jeden Stand auch selbst basteln darf (bei etwas eingeschränkter Kleidungswahl geht das alles auch im Freigepäck im Flieger noch mit). Da die Risse meist etwas unregelmäßig sind, liegen Klemmkeile oft hervorragend. Zwei Sätze sind angenehm. Dazu ein Satz Camalots (0.3 bis 4), die mittleren Größen (0.4, 0.5, 0.75 und 1) doppelt sowie C3-Camalots (1, 2). Die C3 sind dort oben Gold wert, da man die sehr oft solide verbauen kann, wo sonst nichts geht. Viele Bandschlingen (auch sehr lange) und ein- zwei Kevlar- sowie eine Fusselschlinge lassen sich oft zur Gemütsberuhigung unterbringen. 10 normale Exen, 3-4  verlängerbare Exen und eine paar Schraubkaros braucht man noch. Komplett eingerichtete Abseilpisten sind eher unüblich und meist gilt es den Fußabstieg zu wählen, der oft mal durch teils un-angenehmes Steilgras geht (ich zitiere aus dem 94er KleFü: „Grade II grass climbing is a serious climbing grade on Lofoten, so be forewarned!“). So ist der Abstieg vom Vagakallen eigentlich eine Tour für sich und auch beim NW auf den Stedind heißt es: Was du gerade hochgeklettert bist, gilt es auch (bis auf eine 15 m Abseile) retour zu klettern. Deshalb sollte man einige Meter Opferreepschnur im Rucksack haben, da, falls man doch mal zu einem unerwarteten Rückzug gezwungen wird, sich der Materialverlust aufgrund der nicht eingerichteten Stände etwas minimieren lässt. Ein 50 m Doppelseil ist eigentlich ein Muss, 60 m Doppelseile sind vorteilhafter, da viele Seillängen 50 m haben. Helm und gutes Schuhwerk für den Abstieg, das sich noch gut an den Gurt oder in den Rucksack packen lässt, sind auch obligat. Wichtig: Sehr gute, wind- und wasserdichte Funktionskleidung, Mütze und auch Handschuhe. Wie schon erwähnt: Man ist gaaaanz weit im Norden und nicht am Mittelmeer!

 

Ziele:

Das hier vorgestellte Gebiet erstreckt sich über die Inseln der Lofoten und die Festlandgebiete rund um Narvik, bei gleichem Felsmaterial und Kletterethik. Von Boulderblock bis Bigwall, von straßennah bis abgelegenen Gipfeln mit Hochtourencharakter gibt’s für jeden Geschmack was. Bei den Gipfeln gibt es anzumerken, das trotz auf den ersten Blick mickrig erscheinender Absoluthöhen von max. 1161 m (Higravtindan, Lofoten) bzw. 1894 m (Storsteinsfjellet, Narvik-Region), diee hochalpine Ziele sind. Durch die nördliche Lage herrschen auf 1000 m Bedingungen wie in den Alpen auf 3000-4000 m, was man an den tiefliegenden Gletschern und der Baumgrenze bei etwa 200 Hm gut erkennen kann. Vor allem startet eigentlich jede Tour auf Meereshöhe. Die beste Zeit fürs Felsklettern ist von Juni (kann allerdings teils noch unangenehm viel Schnee liegen) bis Ende August. Im Winter sind die sehr schneesicheren Lofoten allerdings auch ein beliebtes Ziel für Skitouren, bei denen man am Meer startet!

Auf den Lofoten konzentriert sich die Kletterei auf die Insel Austvagoya und dort auf die Wände und Gipfel rund um das pittoreske Hennigsvaer und Svolvaer. Die beliebtesten Ziele und auch  direkt an der Straße gelegen sind der Pianokrakken, Gandalf und der mächtige Presten. Hier trifft man dann auch auf andere Seilschaften und die Felsqualität ist einfach genial. Lohnendste Dreisternetouren sind hier zu finden, wo es in der Hauptsaison durchaus vorkommen kann, dass man auch mal anstehen muss. Hier seien exemplarisch „Pianhandler Lunds rute“ (Pianokrakken, 4+; 5 SL), „Vestpillaren“ (Presten, 6, 12 SL), „Gollum“ (Gandalf, 5, 3 SL) und „Gandalf“ (Gandalf, 5, 4 SL) genannt. Die Krabbler werden sich auch an der bestechenden Linie der „Rock&Roll Ridge“ (Rorvika, III, ~ 8 SL) erfreuen. Generell ist es beim ersten Besuch kein Fehler, zu Beginn Routen aus der TOP 50 Liste des aktuellen Kletterführers anzugehen. Als große Bergfahrten sind eigentlich alle Routen auf den wunderschönen und dominanten Vagakallen einzustufen. Selbst die im Felskletterteil nur moderat schwierige (IV+) und öfters begangenen Überschreitung über Nordryggen und Sydveggen ist sehr lang (wir haben knapp 16 Stunden gebraucht und ich war ziemlich geschlaucht danach) und sollte nur bei besten Bedingungen angegangen werden, da die Orientierung selbst bei strahlendem Sonnenschein schon alles andere als einfach ist. 12 SL reine Kletterei, sehr viel ungesichertes I-IIer Gelände im Auf- und Abstieg, Steilgras, Schotter und ein im Zustieg tiefster Morast macht es eher zu einem Ziel für konditionell fitte Bergsteiger klassischer Prägung. Wer sich dort von Schlechtwetter erwischen lässt, ist ein armes Schwein. Zudem ist auf dem Gipfel die Tour nach der Begehung des Nordryggens noch lange nicht beendet, denn der Abstieg über den Normalweg ist auch noch sehr lang und luftig, besonders der dachartige, 40 m lange Reitgrat.

Hoch über Svolvaer mit Blick direkt auf den Friedhof 300 m unter einem wacht der Steile Doppelgipfel der Geita (=Ziege), die man auf jeden Fall besteigen sollte. Zitat aus dem Kletterführer: „If you visit Lofoten and you consider yourself any kind of climber, at least one ascent of The Goat is mandatory!“ Das komplette Kontrastprogramm zu diesen Zielen sind die unglaublich schönen Cliffs im weitläufigen Klettergarten Paradiset (nomen est omen!) für einen relaxten Tag. Die 15-40 m langen Routen, oft direkt über dem völlig klaren türkis-blauen Wasser im mitunter allerbesten Granit laden zum Verweilen ein.

In der Gegend um Narvik ist der eindrucksvolle Stetind, der zum Nationalberg Norwegens auserkoren wurde, ein absolutes Topziel. Eine bizarr-mächtige Felsgestalt, die sich 1392 m aus dem Fjord erhebt, begehrt und auf dem einfachsten Wege für viel Schweiß (1300 Hm Zustieg) und 4+ Kletterei ersteigbar. 8-12 Stunden sollte man für die komplette Tour schon einplanen, um dem „Fitz-Roy des kleinen Mannes“ aufs Haupt zu steigen wobei mich Kletterei, Fels und die Landschaft enorm beeindruckt haben. Wenn man die gewaltig exponierte Crux im Normalveien, die stramme „Fingerspitzentraverse“ hangelt, denkt man ehrfürchtig an die wagemutigen Erstbegeher vor über 100 Jahren. Großer Beliebtheit am Stetind erfreut sich wohl auch der „Sydpillaren“ (6-, 13 SL), dessen Linie schon vom Normalweg aus bestechend ist. Ansonsten gibt es in der Region eine verschwenderische Fülle an riesigen Granitfluchten, durch die sich, wenn überhaupt, oft nur eine Route zieht. Hier gibt es noch reichlich Potential für mutige Erstbegeher, wobei der Kletterführer der Narvik-Region auch schon ein stattliches Buch ist. Da wir auf den Lofoten verweilten, reichte es uns leider nicht für mehr als den Besuch des Stetinds, was schon fünf Stunden Fahrt pro Strecke sowohl morgens hin als auch nach der Tour wieder zurück. Das Tempolimit von 80 km/h und die verzwickte Straßenführung aufgrund der ganzen Fjorde lassen ein rasches Vorankommen nicht wirklich zu.

 

Alternativprogramm:

Die Glücklichen haben zwei Wochen Sonnenschein, darauf zu hoffen ist allerdings mutig. Deshalb gilt: Bei Regen wird gewandert oder geangelt. Die herbe Landschaft bietet sich für den ambitionierten Wanderer an und die Lofoten gehören mit zu den besten Fischgründen weltweit. Vorteilhaft darf im Meer ohne jegliche Vorkenntnis oder Erlaubnis mit Angel und Leine gefischt werden, wobei sich ein kleines Boot als hilfreich erweist, um zu den wirklich guten Fischgründen zu gelangen. Selbstgefangenes Essen schont zudem die Urlaubskasse in dem sündteuren Land.

 

Literatur:

Für die Lofoten den aktuellen und sehr guten Führer: „Lofoten Rock“ von Chris Craggs und Thorbjorn Eneveld aus dem Rockfax-Verlag. Eine Anmerkung hierzu: Die Angaben der Seillängen in diesem Führer sind Höhenmeter und nicht in Klettermeter! Bei steiler Kletterei ist dies erst mal egal, bei Gratkletterei kann diese Angabe zu etwas Verwirrung führen. Vor Ort (Kletterkafee in Henningsvaer) ist noch der als Ergänzung empfehlenswerte 94er Führer „Climbing in the Magic Islands“ von Ed Webster erhältlich. Für den Stetind und Narvik gibt es ebenfalls ein sehr gutes, aktuelles Werk: „Stetind and Narvik“ von Mikael af Ekenstam aus dem Topptur Verlag. Alle drei Kletterführer sind komplett auf Englisch verfasst.   

 

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© Thomas Schaub